SCHULD UND SCHULDEN
Geld reicht nicht
Europa muss Solidarität mit
den Griechen zeigen.
Aber auch mit den
Flüchtlingen. VON HELMUT SCHMIDT
In der Griechenland-Krise
zeichnet sich ein Kompromiss ab. Gelöst ist damit aber wenig. Am Ende dieser Woche
wird nichts stehen, was sich längerfristig auswirken wird.
Die Sache ist ziemlich
verfahren. Heute vor fünf Jahren, als die Probleme mit Griechenland begannen,
war Europa in einem deutlich besseren Zustand. Im Jahr 2010 hatten wir noch
keine Ukraine-Krise, keine Krim-Krise, keine Sanktionen gegen Russland, wir
hatten Isis und Libyen noch nicht. Und wir waren uns nicht darüber im Klaren,
dass die Vereinbarungen von Maastricht absolut unzureichend waren.
Wenn man eine gemeinsame
Währung schafft, dann muss man auch eine gemeinsame Finanzpolitik, Steuerpolitik
und Haushaltspolitik betreiben. Das ist das Mindeste. Ob die jetzige Garnitur
der Politiker den Mut und den erforderlichen Sachverstand hat, bezweifle ich.
Ich sehe keine Personen, die die notwendigen Reformen zustande bringen würden.
Was wir in der gegenwärtigen
Situation am dringendsten brauchen, ist ein europäisches Investitionsprogramm
in zweistelliger Milliardenhöhe. Ein Investitionsprogramm, das, in seiner
Größenordnung auf die heutige Zeit übertragen, dem damaligen Marshallplan
entspricht. Deutschland müsste den wesentlichen Teil dieses Investitionsprogramms
finanzieren. England müsste auch einen Teil mitfinanzieren, ebenso Frankreich
und hoffentlich die Skandinavier.
Aber Geld allein reicht
nicht. Es kommt auf die Sachinvestitionen an. Es kommt darauf an, dass eine
Brücke wirklich angefangen, eine Autobahn wirklich gebaut wird! Geld zur
Verfügung zu stellen reicht allein überhaupt nicht. Der Wille zu bauen muss da
sein.
Und wir müssen begreifen,
dass ein Teil der griechischen Schulden gestrichen werden muss. Dieses Geld
wird niemals zurückfließen. Das muss uns bewusst sein, auch wenn es uns sehr schwerfällt.
Es ist psychologisch undenkbar, einen europäischen Marshallplan ins Leben zu rufen
und gleichzeitig alle diese fantastischen Schulden Griechenlands nicht
anzutasten, die allein auf dem Papier stehen und die nie zurückgezahlt werden
können. Etwas anderes zu behaupten ist Unfug.
Die Bundeskanzlerin ist mit
der deutschen Führungsrolle in dieser Krise sehr vorsichtig umgegangen. Zu
Recht. Denn der Versuch, Europa aus der
Mitte und aus einer Hand heraus zu regieren, ist das letzte Mal unter Karl dem
Großen geglückt. Das war im Jahr 800 nach Christi Geburt. Das zweite Mal, unter
Napoleon 1812, ist dieser Versuch missglückt. Das dritte Mal, unter Adolf Nazi,
ist er innerhalb weniger Jahre schrecklich schiefgegangen.
Nun soll Merkel führen. Aber
sie will nicht führen. Und ich verstehe sie gut. Denn in dem Augenblick, in dem
sie Führung ausüben und beanspruchen würde, würden alle anderen Regierungen in
Europa erst die Nase rümpfen, dann würden sie beginnen zu schimpfen, und
schließlich würden sie zu Gegnern Deutschlands werden.
Die Deutschen haben noch für
viele Generationen Auschwitz im Gepäck. Im Bewusstsein aller anderen wird es
noch lange eine große Rolle spielen, dass wir sechs Millionen Menschen fabrikmäßig
umgebracht haben. In dem Augenblick, wo wir Führung ausüben, erinnern sich alle
wieder daran. Angela Merkel hat mich deswegen mit ihrer Vorsicht beeindruckt.
An unserer Seite brauchen
wir Deutschen die Franzosen, und wir brauchen die Polen. Und die Polen können
wir nicht kriegen ohne die Russen. Deswegen ist das Problem Griechenland nicht größer
als das Problem der Ukraine und das Problem der Tausende, die jede Woche über
das Meer zu uns kommen – unerwünschte Flüchtlinge, von denen wir nicht wissen,
wo wir sie lassen sollen. Ihr Schicksal ist mindestens ein so großes Problem
wie Griechenland. Wir müssen uns den akuten Problemen unseres Kontinents als
Europäer solidarisch stellen.
aus: Die Zeit, 25. Juni 2015, No. 26
Online: http://www.onleihe.de/static/content/zeit_de/20150625/DZ_26_15/vDZ_26_15.pdf
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